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Der Bischof hinter der Küchentür

Frau Niederlin war eine ganze besondere „alte Dame“. Sie zählte weit über achtzig Lenze, war lebensfroh und quicklebendig und strahlte einen solch liebenswürdigen Charme aus, dass man sich in ihrer Gegenwart einfach wohl fühlen musste. Nicht, dass es ihr im Leben immer gut ergangen wäre. Sie musste einen schweren, dornenreichen Lebensweg durchstehen. Aber ihr sonniges Gemüt half ihr über all die Niederungen hinweg, und sie fand immer jene Lösungen ihrer Probleme, die ihre Bürden leichter und ihre Sorgen kleiner machten. „Man muss den Mut haben, aus jedem Tag das Beste zu schaffen“, war ihre Devise. Und sie lächelte weise: „Natürlich erreicht man nicht jeden Tag dieses Ideal. Was macht's? Am ändern Morgen versucht man es wieder; dann gelingt es einem schon viel besser. Sich durch keinen Misserfolg entmutigen lassen. Das Neubeginnen ist entscheidend.“ Diese Lebensphilosophie hatte sie durch all ihre Jahre durchgehalten. Selbst in jener schweren Leidenszeit, als der Lebenspartner ihr durch einen tragischen Unglücksfall entrissen wurde, ließ sie sich nicht unterkriegen. „Ich weiß, dass das Leben weitergehen muss“, sagte sie sich, „auch wenn es noch so viele heimliche Tränen und leidvolle Stunden gibt.“ Frau Niederlin war in ihrem Leben weise geworden.

Die Menschen kamen gerne zu ihr und wussten, dass sie so gut zuhören konnte. Sie gab nicht lange Unterweisungen und Ratschläge, sondern sagte mit einigen guten Worten, was sie als richtig und hilfreich erkannte. Man nahm ihre Äußerungen gerne zur Kenntnis, weil man spürte, dass sie aus einem weiten, verständnisvollen Herzen kamen.

Eines aber fiel der guten Frau Niederlin schwer: das Alleinsein.

Seit ihr Gatte so jäh aus dem irdischen Leben abberufen wurde, blieb sie einsam in ihrer Alterswohnung zurück. Mit niemand reden und plaudern, lächeln und diskutieren zu können war für die betagte Frau eine unbeschreibliche Belastung. Eine fremde Person in die Kleinwohnung aufzunehmen war nicht möglich und von der Hausordnung her nicht erlaubt.

Frau Niederlin wusste einen Ausweg. Sie bastelte eine menschengroße Puppe, bekleidete sie mit festlichem Gewand, setzte ihr ein liebenswürdiges Hütchen auf den Kopf, gab ihr ein lustiges Weidenkörbchen an den Arm, steckte ihr feine Handschuhe an die Finger und malte ihr ein wunderschönes, freundliches Gesicht. An den Füßen brachte sie elegante Schuhe an, die sie selten gebraucht hatte, weil sie diese einst nach den Augen und nicht nach der Fußgröße einkaufte. Diese Menschenpuppe setzte sie an den Tisch in der Kleinküche, gleich hinter der Eingangstüre.

„Nun bin ich nicht mehr allein“, lächelte die gute alte Frau Niederlin. „Ich habe ,Tante Marie’ auf Besuch. Sie ist so geduldig und erzählt nie etwas Böses über die Mitmenschen. Aber ich kann reden und berichten, soviel ich will und mag. Seit meine ‚Tante Marie’ hinter der Türe sitzt, habe ich keinen Augenblick mehr das Gefühl der Einsamkeit.“

Als ihr der Pfarrer einmal die heilige Kommunion ins Haus  brachte, weil sie wegen Winterfrost und beißender Kälte die Wohnung nicht verlassen konnte, flüsterte die Greisin im Korridor mit schelmischem Schmunzeln: „Wir müssen etwas leise sein, Herr Pfarrer, ich habe Besuch. Wir wollen Tante Marie nicht stören.“ Der Priester betete dann die vertraute Andacht mit unterdrückter Stimme, während Frau Niederlin mit fröhlichen Augen in die Gebete einstimmte. Als die kleine Feier beendet war, öffnete die alte Frau die Küchentüre und bat den Priester, ‚Tante Marie’ Grüß Gott zu sagen. Als der Priester die Puppe erblickte, brach er in schallendes Lachen aus. „Liebe Frau Niederlin. Sie haben mich schön hereingelegt. Aber ich finde Ihre Idee ganz wundervoll. Herrlich, Ihre ,Tante Marie’ hinter der Küchentüre.“ Kurz vor dem Weihnachtsfest brachte ihr der Pfarrer wieder die heilige Kommunion. Schalkhaft fragte er schon beim Eintritt in die Wohnung: „Wie geht es ,Tante Marie'? Ist sie immer noch so freundlich und liebenswürdig wie letztes Mal?“

Frau Niederlin zeigte mit dem Finger auf den Mund: „Psst", sagte sie leise, „heute sitzt der Bischof hinter der Türe.“

„er Bischof?“ fragte der Priester erstaunt. „Wie kommt der zu Ihnen?“ - „Sie dürfen ihm schon schnell guten Tag sagen“, lächelte Frau Niederlin. Tatsächlich saß anstelle von ‚Tante Marie’ nun ein würdiger Gnädiger Herr, mit der Mitra auf dem Kopf und einem Hirtenstab in der Hand. An einem weißbehandschuhten Finger steckte ein prächtiger Ring. Gelassen sah der bischöfliche Hirte auf den kleinen Küchentisch, auf dem noch die Kaffee- und Milchkanne vom Frühstück standen.

„Ich wollte einmal mit jemandem anderen zu Tische sitzen“, erklärte Frau Niederlin, „und weil Sankt Nikolaus nicht mehr zu den Alten kommt, habe ich mir halt den Bischof selbst gemacht. Mit ihm kann ich jetzt fromme und tiefe Gespräche  führen.“ Es war wirklich ein herrlicher Anblick, wie der wohlbeleibte Herr Bischof sich hinter den kleinen Küchentisch zwängte und mit seinem wallenden weißen Bart doch eine seltsam-ehrwürdige Stimmung schaffte.

Diesmal nahm der Pfarrer keine besondere Rücksicht auf den Besuch hinter der Küchentüre, sondern sprach die Gebete laut und stimmvoll, da sich der Bischof dadurch sicher nicht stören ließ.

„Bleibt der Gnädige Herr über Weihnachten?“ fragte der Priester beim Abschied. Die alte Frau lächelte verschmitzt: „Vermutlich schon. Im neuen Jahr muss sich der Bischof dann wieder um seine Herde kümmern. Er soll ja nicht einfach nur dasitzen und nichts tun und einer alten Frau Gesellschaft leisten. Bischöfe sollen zu den Menschen gehen, damit sie ihre Anliegen verstehen und sie in ihren Sorgen begreifen können.“ Frau Niederlin hielt inne: „Ich komme da ins Predigen, Herr Pfarrer. Das müssen Sie ja selbst besorgen.“ Dann fügte sie fröhlich bei: „Vielleicht wird das nächste Mal, wenn Sie wiederkommen, ,Onkel Max’ auf Besuch sein.“

 

Guido J. Kolb

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